Ich bin natürlich auch in meinem Kopf zuhause, sehr oft sogar, in meiner Niere, meiner Leber, aber niemand kennt mich wieder.
In meinem Kopf ist soviel abgelagert und auch die Strecken, die ich abgeklappert habe, bis meine Sohle durchgebrochen ist, in meinem Kopf, in meinem eignen Kopf, in diesem Ding, das mir gehört, das ich gepachtet habe, noch immer und schon so lange, mein Kopf, da in ihm drin, ein altes Zimmer, eine Bude, in der noch immer, in der gleichen Ecke, die Kommode steht, da wo wir sie einst hingestellt, wo wir sie abgestellt… ein halbes hundert Jahre sind seitdem vergangen.
Gottlob, die Wohnung ist noch immer trocken, kein Schimmel in den Ecken, ich sauge regelmäßig Staub in meinem Kopf, ich hab den neuen Sauger von Miele abgeholt. Das Zimmer aber will ich nicht noch einmal überstreichen;
das alles neu zu tapezieren. Lohnt es sich überhaupt?
Der Plattenspieler von Dual ist nicht seit gestern schon kaputt. In diesem Kopf und meistens auf der linken Seite führ ich mein Leben, die rechte Seite ist mit Unsinn und mit Obst verstopft.
Wie schön es wäre, wenn ich noch einen Blick nach draußen werfen, ein schmales Fenster auf den Gardasee jetzt öffnen könnte, ein kleines Loch reinbohren, um etwas durchzulüften, drum pump ich frische Luft in‘ Kopf
„Während des Tanzens“, schreibt Frau Mayröcker, “hatte er mich angesehen als wollte er an mir etwas ausbessern.“(S.134 in „Das Licht in der Landschaft) Manchmal würde ich mir gern ein Stück aus Mayröckers Sätzen heraus- klauben und bei mir einsetzen wollen, in mein Gebiß sozusagen, oder in mein eigenes Reich der Gefühle, denn sie hat doch einen so großen Stapel; sie selbst würde es nicht mal merken, sagte ich zu ihr.
Und gestern Abend daheim sah mich meine Frau plötzlich ganz anders an, so als hätte sie einen alten Gedanken in einer Truhe gefunden oder in einem toten Winkel ihres Kopfes und sagte: „Jetzt schauen wir uns schon sechsundzwanzig Jahre beim Kauen zu.“
Anfang September, ein Dienstag. Dieser Dienstag also, den wir nie vergessen werden. Auf dem Tresen liegt die Bildzeitung, die gegen Steinbrück hetzt, weil er die Pensionen kürzen will, wie sie behauptet. Ein Grund mehr, die Merkel zu wählen. Die Wirkung dieses einen Bildzeitungssatzes ist stärker, als das Duell mit Merkel und Steinbrück in der ARD.
Heute Morgen, sagte der als Aushilfsbäcker verkleidete Rentner, hätte es eine Schlange bis hinaus auf die Straße gegeben, schon gegen Sieben sei das gewesen und seitdem ist er ausverkauft. Keine Brötchen also für uns, aber ein Exemplar der Bildzeitung ist noch übrig geblieben.
Im Meer immer die beiden Frachter, immer noch vor Anker, nachts hell erleuchtet, als würde dort eine Party stattfinden.
In der Ferne rauscht zuverlässig die viel befahrene Bundesstraße. Derweil sehe ich zu, wie meine Lazio-Rom-farbene Badehose auf dem Wäscheständer trocknet.
Mir war, als hätte ich diesen Film schon mal gesehen, hatte aber eine ganz andere Länge im Kopf.
Und Mayröcker schreibt: „Sein Blick schien mich auseinander zu nehmen und neu zusammensetzen zu wollen… schließlich fragte er leise ob, dies alles unverfälscht sei an ihr.“
Ich vergesse immer wieder, dass die Zähne auch eine Rückseite haben, dachte ich gestern Abend, während ich mit der elektrischen Zahnbürste meinen Zaun im Mund streichelte, versucht war, ihn wieder mit Deckweiß anzumalen. Sie existieren tatsächlich, auch von hinten, sah ich mit der Taschenlampe! Ein zartes Gelb ganz in der Ecke, freute mich darüber wie Zitronenfalter „ach dieses Morgenglänzen alter Meister“.
Und trotzdem rückt das Datum des Verfalls schon wieder näher, wie auf einem Joghurtdeckel. Eigentlich müssten kleine Elektroden aufleuchten und Warnsignale abgeben. Den ganzen Vormittag durchsuchte ich mein kleines Zimmer wie ein Vopo, fragte es, hast nicht gesehen, wo mein Gebiss ist. Oder hast du es versteckt? Robbe über den Boden an das Regal heran, den Gedichten von Kling entgegen. Grundausbildung in Eckernförde. Manchmal halten wir auf der Strecke an. Die Fragen stehen schön gerade und aufrecht im Raum und hallen lange nach. Das mit der „Wallfahrt der Spermien“, stammt von Frau Mayröcker.
Soviele Jahre sind in den Frauen vergangen, ich rufe Frau Lehmann an, meine Nachbarin hat 101 geschafft, meine Tante noch ein bisschen länger, „das Amen im Inneren der Auen“. Früher hätte ich es übersehen. „Der ganze Park verrostet Ende Oktober“. (aus „Arbeitstirol“)
Und dann stelle ich stumm das Buch ins Regal zurück, in die riesige Mayröcker-Abteilung, inzwischen schon eine kleine Karstadt-Abteilung geworden, mehr als eine Filiale in Minden oder in Münster.
Als nächstes lese ich „das besessene Alter“, das passt doch jetzt dann auch ja fast zu mir. Ich übe schon darin.
Im Wartezimmer, hinten in der Ecke, sitze ich, unauffällig, niemand weiß es, dass ich Torwart bin, der Erste in der Schlange, warte, dass ich aufgerufen werde, alle wollen doch das Gleiche, was ich will. Am liebsten würde ich es allen zeigen, auf diesem Foto sieht man, wie ich einen Unhaltbaren halte, der letzte schöne, warme Tag im Jahr, fast immer im September, der elfte ist`s, ich halt‘ ihn sogar fast in meinen Händen. Herr Hitzfeld streicht mir übern Kopf und wiederholt den Vorgang von Herrn Klopp, der ebenfalls ihn streichelt, und also stimmt es doch: ich sitz im Wartezimmer und träume jetzt davon, Frau Erdmann säße neben mir, Frau Erdmann, die gern hohe Schuhe trägt und meine Hände wollen Cello spielen und wieder etwas Neues ausprobieren. Ich stehe nämlich hinter ihr, im Wartezimmer, hinten in der Ecke stehe ich und alle wollen doch das Gleiche, und wir beginnen uns jetzt zu umarmen, als wäre hier ein Tor gefallen, im Wartezimmer sozusagen.
Gestern, wie immer am Montag, war ich telefonisch mit ihr verbunden, bin mit ihr durch ihre Mittagspause gegangen, habe ihre Schritte gehört, ihre rotlackierten Fingernägel gesehen, mit ihr in ihren Lieblingsladen gegangen, da wo es ihren japanischen Tee gibt und das Schwarz-Weiß-Gebäck. Freundschaftlicher Austausch von Worten; Küsse und Umarmungen nimmt das Gerät nicht entgegen, auch nichts von Strindberg oder Ibsen. Der japanische Tee wird leider viel zu schnell kalt, darf nur siebzig Sekunden ziehen, erklärt sie mir. Wie gerade und aufrecht sie dabei durch die Innenstadt von München geht. Schon wieder hat sie ihre Mittagspause um vier Minuten überzogen. Jetzt höre ich ihre Schritte im Treppenhaus. Sie trägt ihre Winterstiefel. Einer muß das ja feststellen, wenn es schon sonst keiner bemerkt.
Wie schön es wäre, wenn alles doch ein bißchen länger stehen bleiben würde, wie diese Kommode zum Beispiel, die nur die Stunden zählt, bis man sie zu einer Begegnung mit dem Staublappen verführt, der sie nur kurz mal berührt. Mehr will er nicht von ihr. Eine alte Urlaubskarte, direkt an der Wand. Ein Ölbild darüber, das wir sehr lange nicht mehr angesehen haben. Morgen ist der neunzehnte August. Nicht vordrängeln bitte! Die Luft unverdorben, sogar in der Kommode, kein Obdachloser. Ein neuer Fingerabdruck darauf. Wenn ich das sage, stimmt es so. Nichts ist erfunden. Ich sitze am Schreibtisch, ziehe eine Schublade nach der anderen auf und denke darüber nach, wie es ist, wenn man von außen dabei betrachtet wird, wie diese Kommode zum Beispiel.
Ich trete in der nächsten Saison Ceramica Cleopatra bei oder der katholischen Kirche; ich kann mich noch nicht entscheiden. Oder ich gehe nach Lambarene zu Albert Schweitzer, was Gutes tun für die kranken Afrikaner, und abends streichele ich leise ein Mädchen; will einfach irgendwie dankbar sein, wenn mich mal ein Brief aus Deutschland erreicht. Gestern habe ich allein auf der Terrasse gesessen, fühlte eine Lastkraftwageneinsamkeit, die mich durchquerte, vom Kilometerrausch befallen, die Landschaft zweifelsohne ansehbar bis Sansibar. Wie schnell die Zeit dabei vergeht. Eben noch hast du den Erwachsenen zugehört, die da am Tisch saßen, die zu Besuch gekommen waren, zu Kaffee und Kuchen, und sehr freundlich miteinander sprachen. Du hast ihnen dabei zugesehen und dieses Bild hat sich tief eingeprägt. Jetzt sehe ich das alles schon von hinten. Ich geh mit kleinen, unsichtbaren Schritten weiter und stell mir vor, sie kämen noch mal wieder aus der Wand. Sie stecken noch darin. Sie schlummern.
Wenn ich jetzt aufhören zu schreiben würde
So leicht dahin gesagt
Ich könnte plötzlich glücklich sein
Es könnte doch auch funktionieren
Wenn ich es übe
Erst einmal ausprobiere
Die Kellnerin räumt den Tisch wieder ab
mit ihrer Wärme, ich spüre sie fast
Die Kellnerin räumte den Tisch wieder ab. Und gleich schien es, als würde man auf hellere Gegenden sehen: Baugrundstücke, Bernsteinküsten, Tischdecken „mit hoher Aufenthaltsqualität“. Unerreichbares von hier aus gesehen. Nur das Trinkgeld könnte sie jetzt wirklich weiterbringen. Ich musste an Russland denken, an Heinrich Bölls ‚Gruppenbild mit Dame‘. Auch mit Irland konnte man ihr jetzt nicht kommen. Sie würde lieber draußen eine Zigarette rauchen. „Zunächst aber erstmal ein strahlender Morgen“, den wünschte sie mir jetzt, als hätte sie auf ihre Beine gesehen und aus der Ferne winkte sie mit einem großen weißen Tuch, sah aus wie ihre Schürze, in die man sehr gut schluchzen konnte.