Erzählungen, 1998
Reclam, ISBN: 978-3379007689
171 Seiten
Kurz- und Kürzestgeschichten haben Konjunktur. In den 60er/70er Jahren waren sie so gut wie ausgestorben, hatten sie den für gewöhnlich bluternst gemeinten Verständigungstexten Platz gemacht. Es muß am Feuilleton liegen, am Radio,
an den Zeitungen, daß die kleinen, frechen, vorsichtig subversiven Texte jetzt wieder auftauchen. Eine beliebte Form waren sie immer. Schon seit dem Altertum, ja seit Menschenbeginn erzählt man einander und der Nachwelt Histörchen, die oft mehr erbringen als die große Historie.
Die neuen kleinen Geschichten von Thies widmen sich, auch darin nicht ohne Tradition, der„schönsten Nebensache der Welt“, der Liebe und ihren Verwicklungen. Doch das ergibt keinen Decamerone des ausgehenden Jahrhunderts. Das Erzählen ist komplexer geworden, auch in Kürzestgeschichten – die meisten sind kürzer als eine Seite. Und doch reich und witzig. Oft werden nur Bildsequenzen erzählt, das ist für die Fernseh-Erprobten. Etwa eine Folge mit Fußball („eine Flanke von links“), mit dem Park und seinen Dunkelheiten, ein Schlafzimmer im 17. Stock, Wind, Musik von Bartók, Nacht und Piloten – das Ganze stellt dann schließlich einen Sexualakt dar, was ein Geschehen ist, das halt oft mit so gemischten wie stereotypen Bildsequenzen unterlegt ist.
Die kleinen Texte von Thies geben sich in der Mehrzahl als Feuilletons. Berühmte Figuren tauchen die Menge auf: „Lou Reed und Maria Callas singen im Duett. Im Badezimmer putz sich Picasso die Zähne.“ Fußballgrößen, BB, auch Goethe, Luther, immer noch auch Prinzessin Diana und natürlich „die lebenslängliche Mutter“ spielen Haupt- und Nebenrollen. In den Texten ist – wie in unseren bildschirm- und buchgefütterten Denkregungen – immer alles gleichzeitig da. Sie ordnen nicht etwa, das liegt dem Autor fern, sondern reizen das Durcheinander aus. Es stimmt ja auch, daß die Grenzen zwischen Realität und Fiktion täglich mehr fließend werden. Eine Beschreibung endet mit dem Hinweis: „Das Ganze sehe ich dann, nur zeitversetzt, im Fernsehen wieder.“ Umgekehrt ist unser Sehen fernsehgebildet genug, um auf schnelle Wechsel und Schnitte erpicht zu sein. Thies bedient auch diese Erwartung. Hier und da vielleicht etwas zu großzügig – durch Anleihen bei den Surrealisten, was immer gut für eine Pointe ist: „Ohne Grund schwimme ich durch den Flur, der von Picasso selbst in seiner Kubismus-Phase nie getüncht worden ist.“
Ganz real wirken die Surrealismen, wo sie in der ostdeutschen Provinz angesiedelt sind. Doch kann man der auch ganz gut mit Tautologien beikommen, indem „Pfarrfrauen noch aussehen wie Pfarrfrauen“ und das Güstrower Hotel wie ein Environment von Kienholz. Zu trinken gibt es heißes Wasser mit Cappuccino-Tarnkappe. Das deutet – auch stilistisch – auf den Anfang der 90er Jahre zurück. Auf die 60er Jahre verweist der mentale Abschied vom Karfreitag, das „Etuikleid der Demut“ bedarf heute keiner Verspottung mehr, will mir scheinen.
Die kurzen, kritischen, befreienden Blicke auf so Alltägliches wie Absurdes, sie machen die Signatur dieser Texte aus. Die Pointen sind durchweg ironisch gesetzt: „Du rauchst noch eine krebserregende Zigarette und siehst dem Nachbarn zu, der ebenfalls raucht. Ihr hättet alles besser machen können.“ Diese etwas banal ironische Selbstsicht könnte Thies fast zum Berliner machen, wo man ja gern auf dem Teppich bleibt: „Auch wir sind nicht viel mehr als ein bißchen Nieren plus Lunge mit einem Stück Vergangenheit hinten dran.“ Diese Sicht gehört ebenso zum letztlich barocken Ansatz der Texte wie ihre Sinnlichkeit und amüsante Mischtechnik – ein rückhaltloses Bekenntnis zum alten Spruch „Dichter lügen – die Wahrheit“.