Klaus Johannes Thies

Bücher

Schurrmurr: Miniaturen

Kurzprosa, 1996
Achilla Presse, ISBN: 978-3928398213
160 Seiten, €5,00

„Der Raucher, der die Kinofrauen liebte“ Inge Zenker-Baltes über die Miniaturensammlung „Schurrmurr“ Weser Kurier 11.09.1996

Na also, es gibt sie doch, die Bremer Autoren, die schreiben können. Klaus Johannes Thies ist einer von ihnen. Soeben ist sein neues Buch „Schurrmurr“  (laut Duden: Allerlei, Durcheinander, Gerümpel) erschienen, noch dazu in  einem Bremer Verlag, da bleibt für das hiesige Lesepublikum kein Wunsch  offen. Als „Miniaturen“ bezeichnet Thies, der unter anderem auch für Radio
Bremen arbeitet und trotz soviel hanseatischer Akzentsetzung eigentlich aus  Bielefeld stammt, seine Geschichten in bescheidenem Understatement. Wer das  geschmackvoll aufgemachte Büchlein aufschlägt, wird schnell feststellen, daß  diese Kategorisierung nur den Umfang, nicht aber den Gehalt seiner  unterhaltsamen Reflexionen charakterisiert. Unschwer lassen sich die Miniaturen zum einem Ganzen zusammenfügen, dessen besonderer Reiz nicht  zuletzt in seiner Uneinheitlichkeit liegt.

Hier schreibt einer, der schonungslos beobachtet – auch und vor allem sich  selbst -, der über trügerische Familienidylle und die hilflose Heuchelei der  Nachkriegszeit reflektiert, dessen Rückblicke und Gegenwartsanalysen dennoch  nicht nur bitter oder pessimistisch sind – und der das alles wunderbar in Sprache zu fassen vermag. Mit Wort- und Gedankenspielen, Gegenwarts- und  Vergangenheitsträumen und überquellender Phantasie entführt Thies ins  „Dunkel des Kinos“, und in der Tat ähneln viele Sentenzen spannungsgeladenen Kurzfilmen. Der Autor weiß dies noch dadurch zu verstärken, daß sein Ich-
Erzähler – mit dem ihn ganz offenkundig nicht nur der gemeinsame Vorname  verbindet – zahlreichen Leinwandgrößen Eintritt in sein Leben gewährt.  Truffaut, Godard, Hitchcock, Fellini, Buñuel, sie alle bereichern in  Wachträumen und Wunschphantasien einen eher ereignisarmen Alltag. Wenn Jean Gabin Brigitte Bardots Beine auf „Umweltverträglichkeit“ überprüft, liegt unser Erzähler dem kurvenreichen Idol von einst ebenso zu Füßen wie Stéphane Audran, Romy Schneider, Fanny Ardent und Marlene Dietrich mit den „göttlichen Beinen“. (…) 

Spießer, Mondäne und Literaten bevölkern die Welt des Protagonisten. Vater, Mutter, Bruder, Schwester und die ganze, bunte Verwandtschaft ebenso wie Kennedy, der sich mit der Monroe ehebrecherisch vergnügt. Oder Thomas Bernhard, auch Flaubert, dem in einem zauberhaften Impromptu gehuldigt wird, Marguerite Duras und Ernst Jandl. Das Flair der großen weiten Welt inhaliert der Erzähler nicht nur mit Hilfe ungezählter Zigaretten, sondern auch mit Träumen von Paris, London, Monte  Carlo oder Bologna. Seine Abrechnung mit dem Vater, Pflichtübung wohl für jeden schreibenden Jungmann, entlockt dem ansonsten wenig Aggressiven  erstaunlich scharfe Giftpfeile. Ein Vater, der gefährlich wird, wenn er sich darauf besinnt, Vater zu sein, und der den Sohn noch über das Grab hinaus maßregelt – „antworte erst, wenn ich dir die Erlaubnis dazu gebe! Und du hast immer noch keinen festen Beruf“ – läßt nur wenig Raum für zärtliche Gefühle. (…)

Viele Geschichten sind voller verhaltener Tränen, andere bergen geschickt maskierte Anklagen. Attraktiv wirken auch die vielen Accessoires, überraschende Wendungen und ungewöhnlichen Assoziationen. Sieht man den Helden nicht vor sich, wenn ernach erfolgreicher Dusche seinen Tag beginnt, die Straße „mit einem frisch gewaschenen Penis“ überquert, beim Gedanken an die DDR von einst einen ranzigen Geruch nach Resignation in der Nase hat und seiner entschwindenden Jugend poetisch nachtrauert, „Onkel Rudi in seiner Fliegeruniform, die 50er Jahre, Brigitte Bardot, was bleibt davon?“ Der Mann, der hier erzählt, gehört zu der Generation derer, die sich bei Ingmar Bergmans „Schweigen“ noch die Augen zuhalten mußten. Viel und üppig wurde mit der Großfamilie bei Kaffee und Kuchen geschmaust, derweil die Fotos der „Gefallenen“ an den Wänden strafend zusahen, einverstanden posthum mit dem einfachen und übersichtlichen Weltbild: „Hauptsache, die Sonne scheint, Adenauer regiert, die letzten Ruinen verschwinden.“

Klaus Johannes Thies steht die gesamte Sprachklaviatur zur Verfügung, und er versteht sie trefflich zu bedienen. „Ich bin ein guter Schriftsteller. Goethe hätte mir eine Tulpe überreicht“, sagt der Ich-Erzähler ironisch-selbstbewußt. Nie begeht er den Fehler, „eine spannende Geschichte schwach anfangen zu lassen.“ Und schwach ist eigentlich gar nichts in dieser ganz ungewöhnlichen, kleinen, scharfen Zeitgeschichte, die auf 160 Seiten ein atmosphärisch dichtes Sittenmosaik entfaltet, den eigenen Anspruch erfüllend: „Das Leben muß erzählt werden, aber wenn ich bitten darf, nicht so umständlich.“

Werner Söllner an Klaus Johannes Thies

Alexander von Bormann über Schurrmurr, Achilla Presse (Radio Bremen II)

Welch ein hübscher Titel: „Schurrmurr“, der hätte schon längst über einem Büchlein mit Miniaturen prangen müssen. Aber es gehört auch eine Portion Selbstironie dazu, und die hat längst nicht jeder Autor. Klaus Thies offensichtlich wohl. So nennt er sein erstes Kapitel (es gibt deren sieben) „Von Godard abgeschrieben“. Und er zeigt, daß man das kann: die Erwartung eines Films im Kino in die Erwartung von Lesestücken umzumodeln. „Draußen ist es kalt und ungemütlich, und drinnen ist es warm, und jeder ist schon etwas aufgeregt, und keinem läuft die Zeit mehr weg“ – ja, das ist eine schöne Wunschvorstellung, so wie ein neuer Film möchte ein Buch auch einmal empfangen werden! Die erste Abteilung handelt jedenfalls von der Besetzung
unseres Sehens durch Filmerfahrungen. Thies wurde 1950 in Wuppertal geboren; vielleicht gilt das für diese Generation auch besonders. Es gibt kein unschuldiges Sehen, ist die These, immerzu schieben sich gewußte Bilder dazwischen, und das bietet Raum genug fürs Erzählen. Es sind kleine Texte, die unschuldig tun, aber gutteils doch auch Biß haben.

Gegen Bielefeld spricht z.B., daß man dort keinen abendfüllenden Spielfilm drehen kann, was vermutlich wahr ist. Die Verbindung von Lörrach und Marilyn Monroe wirkt ein wenig grotesker als die von Kennedy und der Monroe, die der

Erzähler in dessen „Büro für Abenteuer“ kommen läßt. Es ist einer der Tricks dieser kleinen Texte, die Thies auch „Bagatellen“ nennt, daß sie Alltagsszenen mit berühmten Namen spicken (die reichen von der Callas bis zu Shrkamp oder Kiepenheuer & Witsch); dann kommt ein gewisser Dreh, irgendetwas verrückt sich ein bißchen, und schon haben wir eine Geschichte, der wir nachsinnen können. Die Perspektive ist die des Flaneurs oder es Kommentators, des Moderators.

Gekonnt rechnet der Erzähler Thies mit einem von den Medien ‘erzogenen‘ Publikum. Das Getrappel nach Geschäftsschluß wird ihm zum Blick auf einen Ameisenhaufen: „Vorwärts, rückwärts, rechts und links, nur nach oben, in den Himmel, will keiner. Sie gehen schnell, und kaum, daß sie gegangen sind, sind schon die nächsten in Sicht, alle, durchgängig, mit einer hohen Bereitschaft zur Beeilung.“ Das wird zur Maßgabe auch der Textproduktion: „Dreieinhalb Minuten sind dir zuzumuten … Es gibt keine Zeit mehr. Kurze Texte also, die noch Kraft genug haben, um in deinem Kopf einzuschlagen.“ Man hört, daß Thies auch für den Rundfunk arbeitet; auch diese Rezension hat eigentlich nur dreieinhalb Minuten …

Thies‘ kleine Texte entwickeln auch Wunsch- und Erfolgsbilder, etwa des Autors mit einem Bier oder mit schönen Damen in New York. Doch läßt er die Bilder immer in Sätzen untergehen; die sind letztlich sein Metier. Und Thies
beeilt sich, die lungenkranken unter den gesunden Sätzen herauszufinden, und mit einigen Strichen den Geschmack in jene Sicherheit zu bringen, welche die  Kritiker lieben. Zum Glück betreibt er dieses Säuberungsgeschäft nur ironisch. Manchmal gibt Thies freilich bloßer Lüsternheit nach bzw. der Kalkulation auf ein entsprechendes Publikum und macht sich allzu sehr ans Strecken kleiner Einfälle; da muß dann das pikant Stoffliche helfen. Doch immer wieder kehrt er zu plausibel skurrilen Textfügungen zurück, die nach Filmzitaten aussehen. „April in Paris klingt wie Bremen im Regen, mal mehr, mal weniger, stärker und dann wieder nicht ganz so schwach, auf jeden Fall klingt es ähnlich und unvergänglich mit Zigarette im Mund und im Regenmantel…“ Wenn das keine Huldigung ist! Böse Blicke fallen auf das Familienleben, auf den täglichen Großverbrauch von Landschaft, auf die Entsorgung von Vergangenheit und zunehmend auch der Gegenwart, und wenn es gut geht, findet der Erzähler sarkastisch, hebt sich das alles noch in Bilder auf. Er trägt dazu bei, diesen Schurrmurr der Gegenwart ein wenig haltbarer und vergänglicher zugleich zu machen; etwa wenn er die Ostsee, die Bardot, die DDR, Mutter Teresa, Nizza und Claudia Schiffer so in einen Kurztext faßt, daß ein Bild von Matisse herauskommen könnte. Das wäre schon ein Kunststück! Aber immerhin ein immer wieder gelungenes.