Klaus Johannes Thies

Bücher

Unbedingte Zunahme

Hardcover/gebunden
Tende Verlag
ISBN-10: 3-88633-106-7
ISBN-13: 978-3-88633-106-2
Erscheinungsjahr: 1986
Seitenanzahl: 119

Klaus Johannes Thies bleibt zu Hause. Er schaut sich um, und offensichtlich genießt er das. Da ist ein Zimmer, ein Interieur, das Matisse hätte gemalt haben können: blaues Sofa, ein roter Blumenstrauß in weißes Papier eingewickelt; in diesem Raum ist auch noch ein Mann mit schwarzem Rollkragenpullover, er ist der Betrachter. Und wie das mit dem Interieur eines Matisse geschehen kann, daß man sein Bild beliebig lang anschauen mag, weil alle Gegenstände gerade in ihrer Einfachheit von Interesse sind, geht es auch mit dem zu, was Thies schildert. Sofa, Blumen und der Raum sind deutlich sichtbar, und was könnte man mehr erhoffen, als daß etwas wirklich vorhanden ist. Das ist der in seiner
Schlichtheit zufrieden stimmender Hintergrund, in den Thies dann seine Sätze hineinwirft. Seine Sätze sind nicht monologisch, nicht dialogisch, nicht wehleidig, wollen auch nicht weise, aufklärend oder hilfreich sein. Siesind einfach vorhanden, wie sein Zimmer vorhanden ist:
zwei Scheiben Brot, Butter, ein bißchen Zubehör, ein bißchen Zukunft vor den Augen…
In dieser intensiven kleinen Welt gibt es ein Fenster zur Straße hinaus, auch von der Umgebung ist die Rede, es gibt Nächte zum Einschlafen, und in der Früh kann der mit dem Rollkragenpullover aufwachen. Er hat eine Mutter, hat Freundinnen, die schöne Strümpfe tragen. Aber von welchem Zeitraum, von wieviel abgelaufener Zeit nämlich die Rede ist, das wird nicht verraten. Es bleibt gleichgültig. Auf das neue Jahr reimt sich Jaguar, dann kommt Februar, sagt er einmal: er pfeift auf die Zeit und macht seine Witze mit ihr.
Ich brauche Ruhe. Ruhe braucht eine feste Stelle, eine verbeamtete Stelle, einen Rückhalt. (…) Das Gegenteil von Ruhe ist Uhr. Das Ticken der Uhr. Tissot toujour.
Der Erzähler spricht über Unbekannte und über Bekannte, über Minetti und Morandi:
Neunzehnhundertsechsundfünfzig, im Alter von sechsundsechzig Jahren unternimmt Morandi anläßlich seiner Ausstellung in Winterthur die einzige Auslandsreise seines Lebens. Ich habe diesen Satz gern. Wenn etwas immer wieder dasselbe ist. Wenn etwas immer wieder gleich anfängt. Wenn etwas es zu nichts bringt.
Ich wünsche ja immer nur, daß jemand kommt, den ich sehr gerne hab, selbst wenn es ihn nicht gibt, er folglich auch nicht kommen kann.
Eine sprachliche Gratwanderung erlaubt es Thies, von Einsamkeiten und auch von trostlosen Begebenheiten zu reden, ohne willkürlich Trauer zu erregen. Der Leser fühlt aufrecht mit, er fühlt mit und bleibt aufrecht, und er wird auch niemals in die mißliche Lage gedrängt, jemanden auslachen zu müssen:
Sie sieht sich Schaufenster an. Sie gehört zu dem Herrn, der neben ihr steht, schwarze Schuhe von hinten. Sie werden gleich ein Geschäft betreten. Sie werden bezahlen und schöner aussehen. Ihr Erscheinungsbild ist unterwegs, um korrigiert zu werden. Sie haben eine Steigerung erwartet, als sie das Geschäft betraten. Jetzt ist es geschehen.
Die wohl exklusive Einkaufslust der beiden Unbekannten kann ihnen niemand Verübeln. So sind sie! und Thies schaut zu. Er ist ein Flaneur, ganz gleich ob er im Zimmer sitzt oder sich auf der Straße umschaut, die man sich in Norddeutschland vorstellen könnte, der Autor nämlich lebt in Bremen; er ist ein nordischer Flaneur, der mehr nicht sein will.
Wenn man nicht genau Bescheid weiß, redet man weiter, man redet sich in die Unbescheidenheit hinein. Wieder ein Verrat, den ich mit dreitägigem Schweigen bereue.
Während des Schweigens schreibt er seine kleinen, genauen Sätze, die nicht nach notorisch kleinen Sätzen klingen, sondern einfach ihre ihnen zustehende Länge haben. Daß sie trotz aller Verhaltenheit und Witz doch auch Melancholie transportieren, macht sie besonders sympathisch.
Jeder Kontakt mit der Außenwelt ist eine Entzündung. In jeder Hand befindet sich ein ansteckender Herd. Unabänderlich Zerrissene, in jeder Hand ein Heimweh nach überall und zu sich zurück.
Die Pflicht nach der Sehnsucht in die Ferne, oder wie man mit der Ferne und der Nähe umgeht, war unser Ausgangspunkt. Dazu noch ein Satz von Klaus Johannes Thies:
Ich erinnere mich an Venedig, obwohl ich nie dort war.