123 Phantasien
Kurzprosa, 2015
Edition Azur
ISBN: 978-3-942375-19-1
148 Seiten
Tag für Tag. Jahr für Jahr. Seit Mitte der 1980er schreibt Klaus Johannes Thies an der perfekten Geschichte. Eine Seite, mehr nicht. Eine Seite voller Sätze, die sich so selbstverständlich zu einem Ganzen fügen wie die Bilder eines surrealen Traums. Eine Seite, die mehr Überraschungen enthält als die meisten 600-Seiten-Romane. Von Robert Walser führt ein schmaler Pfad zu Werder Bremen und von dort zu Frau Erdmann in ihren ultramarinblauen Pumps. Weil es genau so sein muss. Leichtfüßig und elegant kommen diese Phantasien daher. Und da sie sich an einer unstillbaren Sehnsucht entzünden, sind sie natürlich zutiefst melancholisch.
Minimalisten haben es in der deutschen Literatur schwer, obwohl hier die Kalendergeschichte erfunden wurde und die Kleist’sche Anekdote und das wunderbare Feuilleton eines Alfred Polgar. Lauter schweifende Formen, die dem Blick Auslauf ließen, die Epiphanie zuließen und den plötzlichen Augenblick bevorzugten. Der Passant hat diese Literatur hervorgebracht, der Blickebettler, der auf seinen ruhelosen Spaziergängen durch die Welt die eine besondere Situation erleben will, die bei ihm die Fenster aufstößt. Er ist das Gegenteil des breiten Erzählers, der seinen Stoff ausbreitet in der Hoffnung, dass alle Fugen ausgefüllt sind und keine Ritze bleibt, durch die die Luft der freien Assoziation strömen kann. Wer auf der Straße springt, macht sich verdächtig. Wer den Blick von einem Ding zum andern springen lässt, macht sich der Abschweifung verdächtig und wird gerügt, schon in der Schule: Bitte konzentrieren Sie sich, wenn Sie versetzt werden wollen.
Aber manche wollen einfach nicht versetzt werden! Ihnen ist die Welt zu bunt und zu chaotisch, um ihren Blick auf eine Sache zu fokussieren. Sie sind unangepasst und wollen einfach nicht verstehen, dass angeblich alles seine Ordnung hat, wo doch jeder sieht, dass blanke Unordnung herrscht. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das im-mer etwas stattdessen tut, hat (sinngemäß) der Philosoph Odo Marquard gesagt, und wenn er einen Beleg für seine These braucht, dann findet er sie in den Abschweifungen von Klaus Johannes Thies. Auf den Ernst der Lage antwortet er mit wunderbaren Albernheiten, aber wenn es ihm zu bunt wird, kann er sehr ernst werden. Die Überraschung ist seine Stärke, der Moment, in dem etwas umzukippen droht. Er ist für die Sachen zuständig, für die sich keiner richtig zu-ständig fühlt, heißt es in einer seiner haarsträubenden Geschichten.
Wo ist sein Platz in der Literatur? »Damit jeder weiß, wo ich sitze, « – schreibt er – »erhebe ich mich kurz und setze mich gleich wieder hin.« Nur nicht auffallen, keine große Rolle spielen. Aber wenn er einmal den Kleist-Preis (oder einen anderen Preis) erhält, dann können alle, die sein Buch gelesen haben, sagen, sie hätten schon immer gewusst, wo der Autor gesessen ist.