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Klaus Johannes Thies | Die Wasserwerke von Venedig

Exposé

Solange man hier schreibt, sieht man die schöne Zeit, die in dem Satz gern etwas länger stehenbleibt. Ich denke an Venedig, an „die Wasserwerke“, an denen ich mich nicht satt sehen konnte, nicht satt sehen kann und darum in Worte umgetauscht habe. Parallel dazu musste ich auch fotografieren, wie eigentlich jeder früher oder später hier zum Handy greift. Manch einer verzichtet ganz und gar aufs Sehen, knipst nur noch, meistens nur sich selbst, mit der Fassade von Venedig, denn irgendwas Authentisches möchte man dann schon nach Hause mitbringen, zumal die Geschäfte inzwischen fast nur noch mit Souvenirs bestückt sind, also mit „Nichts“. Alles andere ist schon lange abgewandert. Nur das Wasser ist noch da, noch immer schwer und ölig liegt es da, jeden Tag in einer anderen Farbe.

Ich war 90 Tage da, ein Stipendium ermöglichte mir den Aufenthalt, und jüngst war ich schon wieder da, weil ich sehen wollte, ob es stimmt, was ich über die Stadt geschrieben habe. Venedig als Thema – fast muss man sich entschuldigen dafür, wenn man es wagt, über diesen Gegenstand zu schreiben, weil ja alle schon über diese Stadt geschrieben haben. „Ist doch kein Thema“, sagte mir ein Verleger. Thomas Mann und das Hotel des Bains sind ja immer noch da. Abgeschlossen, verriegelt, tot und doch bewacht. Ich habe mit dem Wärter, mit dem Wachmann gesprochen, über ihn geschrieben, so wie ich über die Bücher geschrieben habe, die ich nach Venedig mitgenommen habe.

Hatte ich mich zuvor mit dem Besonderen im Alltag beschäftigt, etwa mit dem Blick auf einen Parkplatz von meinem Bremer Küchenfenster aus („Aus meinem Fenster“), so war es nun der Alltag im Besonderen. Wenn ich aufgesehen habe von der größten Terrasse dieser Stadt, meinem Arbeitsplatz, habe ich das Leben der Boote betrachtet und ihren Motoren zugehört, mit diesem Gefühl, wie auf einer Autobahnbrücke zu stehen. Sie kamen von rechts und von links. Und manchmal „spazierte“ eine Gondel wie aus einem anderen Jahrhundert an dem Geländer vorbei, mit einem Lied auf den Lippen. Und manchmal hat eine Möwe neben mir Platz genommen und mit mir auf dieses Bild gesehen.

Venedig ist alt und ich werde niemals die Frage vergessen, die mir eine großgewachsene Japanerin in Torcello gestellt hat, mit dem Finger auf eine Wand, oder eine Tür in der Kirche zeigend: „Is that old?“ Hätte ich ja gesagt, oder mit dem Kopf genickt, hätte sie den Gegenstand sofort „zerknipst“, selbst wenn es eine Telefonzelle gewesen wäre. Daraufhin habe ich sie auch geknipst und ihr versprochen, ihr das Foto zu schicken, wenn sie alt geworden ist.
Über all diese Begebenheiten und manchmal auch Phantasien habe ich geschrieben, selbstverständlich auch über die grünen Frauen und Männer, die täglich um Punkt zehn, man hätte die Uhr danach stellen können, an der Wohnungstür klingeln, um den Müll abzuholen.

90 Tage habe ich in diesem Buch aufbewahrt. Öfter noch bin ich durch die Stadt gewandert, habe Eindrücke gesammelt, ohne auf Chronologie und Wetter zu achten. Und immer wieder habe ich mich in diesem Labyrinth verirrt. Das ist das Vergnügen dieser Stadt. Alle stehen auf der Rialtobrücke und wenn nicht dort, füttern sie gerade die Tauben auf dem Markusplatz.
Ein Text, sage ich mir, muss so gut sein, dass man ihn gleich wieder abschreiben möchte, am liebsten mit der Hand, um richtig nah bei ihm zu sein, schon fast unter seinem Pullover und dann noch mal, nach einer kleinen Cappuccinopause, und am Abend tunkt man seine Lippen selbstverständlich in den roten Sprizz hinein. Am Ende habe ich alle Sätze zusammengeklebt und mit Tipp-Ex-flüssig übergossen.